“Wie ich angefangen habe Fragen zu stellen statt Antworten zu suchen”
Ein persönlicher Rückblick auf das vergangene Jahr in den Erprobungsräumen der EKM.
von Dora Samira Brodbeck (Aug. 2020)
Welche Ausdrucksformen hat Kirche eigentlich noch?
Ich weiß noch, wie ich diese Frage immer öfter irritiert in meinem Inneren zur Kenntnis nahm.
Die Gemeinde, in der ich geistlich aufwuchs, ist jung und modern, lebendig und in ständigem Wachstum. Sie hat Raum zum auftanken, inspiriert werden, Tiefe erfahren, sich einbringen, sich ausprobieren, sich neu erleben und vor allem: genau so, wie ich mich wohl fühle, mit Jesus unterwegs zu sein!
Was vermisse ich da eigentlich noch? Wonach suche ich? Was meine ich damit, welche Ausdrucksformen Kirche noch hat? Mir fehlte in meiner Gemeinde nichts. Was war das also für eine Sehnsucht, Kirche außerhalb des mir Vertrauten kennen zu lernen?
„Wo ist Kirche noch? Was ist Kirche noch? Wie ist Kirche noch? Gibt es Kirche außerhalb meiner Vorstellungskraft? Kirche, die nicht einladend ist, sondern bedürftig? Kirche, die nichts bringt, sondern findet? Kirche, die keine Antworten liefert, sondern Fragen stellt? Kirche, die zu denen geht, die nicht nach ihr fragen? Kirche, die sich selbst immer wieder anders erfindet, um Kirche für jeden zu sein? Kirche, die die Vielfalt der Menschen sucht, obwohl sie selbst in sich Einigkeit lebt?“
Die Ahnung, dass Kirche bereits viel mehr ist als das, was sie mir bisher gezeigt hatte, löste eine innere Rastlosigkeit in mir aus, Kirche mal anders zu entdecken.
Ich zog also ins 300 km entfernte Gotha. In den Erprobungsraum STADTteilLEBEN. Und wurde gleichzeitig Teil des Teams der Erprobungsräume im Landeskirchenamt. Das ist doch keine Entfernung, dachte ich damals. Und trotzdem – ganz anders! Aus der Großfamilie vom Dorf in die erste eigene Wohnung in der Platte. Aus der württembergischen Landeskirche in die Mitteldeutsche. Bevor ich verstehen konnte, was Kirche hier so anders macht als daheim, musste ich verstehen, wie sehr die Geschichte unseres Landes unsere Gesellschaft, die Politik und eben auch Kirche prägt. Und deutsche Geschichte ist nicht gleich deutsche Geschichte.
Welche Herausforderungen – aber für mich vor allem Schätze – das birgt, war mir vor meinem Jahr hier nicht klar. Ich kam aus einer Gegend, in der Konfirmation oder Firmung Selbstverständlichkeit sind, und hatte „Jugendweihe“ noch nicht einmal gehört. Die Selbstverständlichkeit, sich mit Kirche auseinander zu setzen, kann hier nicht vorausgesetzt werden. Während Kirche zu Hause noch viel mehr auf Neugier, Interesse, Sehnsucht, Gemeinschaftsgenuss und familiär verwurzelten Glauben reagieren kann, erlebte ich in meiner Anfangszeit bei den Erprobungsräumen Kirche, die zuallererst eine Reaktion auf wahrgenommene Not ist. Um mich einzuarbeiten in die Welt der Erprobungsräume las ich mich durch die Anträge und Jahresberichte der rund 50 einzelnen Erprobungsräume, und bei allen stieß ich auf das tiefe Bedürfnis, Menschen das entgegen zu bringen, wovon Mangel erlebt wurde: Wertschätzung, Verständnis, Annahme, die Möglichkeit zur Selbstentfaltung von Kirche, die genau so ist, wie die Menschen sie brauchen. Individuell, aufsuchend, fragend, mutig die Irritation des Fremdseins zulassend, als Gast zu kommen und als Erprobender zu bleiben. Kirche die erprobt wird. Kirche, die Fehler machen darf. Kirche, die so wie sie ist, die Kirche für die Menschen sein kann, die meine Gemeinde für mich war.
Diese anderen Arten von Kirche zu entdecken, diese Vielfalt, die für mich wirklich Einigkeit ermöglicht, denn nur in der Vielfalt kann die Individualität jedes Menschen Entfaltung finden, diese Kirche begeisterte mich. Und sie beeindruckt mich.
Ich habe erlebt wie Kirche noch ist. Zusätzlich zu dem mir Vertrauten. Und ich spüre eine fröhliche innere Erregtheit bei dem Gedanken, dass ich gerade erst anfange zu entdecken, wie Kirche noch ist. Dass Kirche weit außerhalb meiner Vorstellungskraft liegt! Und dass ich sie erkunden darf. Das ich ihr auf der Spur bleiben darf. Als Suchende. Als Fragende. Als Lernende. Als Erprobende. Als Scheiternde. Als Bedürftige.
Im Herbst werde ich beginnen Theologie zu studieren. Und ich freue mich darauf, meine Entdeckungstour dabei fortzusetzten, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Lebenswelten und mit verschiedenen Menschen…
Liebe Dora, du warst eine große Bereicherung für unser Team.
Wir vermissen dich, wünschen dir aber gleichzeitig für deinen weiteren Weg Gottes Segen, den Mut weiterhin Fragen zu stellen, auf dass du gute Antworten findest!
Dein Team der Erprobungsräume