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Erpro­bungs­räume im “Deut­schen Pfarrerblatt”

Die Erpro­bungs­räume

und der Umbau in der Evan­ge­li­schen Kirche in Mitteldeutschland

 

Was sind Erprobungsräume?

 

Ob Gina weiß, was ein Erpro­bungsraum ist? Sicher nicht. Muss sie auch nicht. Obwohl sie zu einem gehört, von dem sie offenbar begeistert ist: „Jedes Mal bekommt man was mit, was einem total viel bringt, was man vorher noch nicht so bedacht hat  … und noch viel schöner ist es, sich mit anderen darüber auszu­tau­schen.“ Sie spricht über faithtime, den Jugend­got­tes­dienst von Herz­schlag in Nord­hausen. Herz­schlag ist eine Kirche von Jugend­lichen für Jugend­liche, die es gekonnt versteht, zentrale Angebote mit dezen­traler Wirkung zu kombi­nieren: In kleinen Gruppen treffen sich Jugend­liche verlässlich und persönlich an unter­schied­lichsten Orten – und alle gemeinsam in ihrer Kirche, die sie selbst gestalten und füllen: die Alten­dorfer Klos­ter­kirche St. Maria im Tale. „Herz­schlag bedeutet für mich im ganz großen Sinn Gemein­schaft und Glaube. … das gibt einem schon irgendwie so’n Rückhalt, dass man weiß:  Die zählen auf dich, die rechnen mit dir und freuen sich auch immer, dich zu sehen. Es ist wie eine zweite Familie – fast schon so.“[i]

Seit 2016 ist Herz­schlag ein Erpro­bungsraum der EKM. In Erpro­bungs­räumen sollen „andere Sozi­al­formen von Kirche erprobt werden[ii]. Einige Aspekte dieser Defi­nition werden im folgenden näher beleuchtet:

1) Der Raum, von dem hier die Rede ist, ist nicht geogra­phisch oder juris­tisch zu verstehen, sondern sozial. Es geht nicht um Gebäude, Gesetze oder Regionen[iii], sondern um eine andere Form des Mitein­anders. Das kann sich beispiels­weise auch virtuell reali­sieren – wie in dem Konzept der Online-Kirche, die 2017 Erpro­bungsraum wurde und nun sukzessive aufgebaut wird. Passagere und fluide Formen, die Kirche von Bezie­hungen und weniger von Mitglied­schaft her denken, sind eben­falls im Blick (z.B. Markt­treff Creuzburg, Engel am Zug in Erfurt).

Erpro­bungs­räume werden inzwi­schen vermehrt einge­fordert, gerade an den Stellen, an denen die gewohnte Praxis ins Stocken gerät. So werden in Erpro­bungs­re­gionen andere Formen des pasto­ralen Mitein­anders auspro­biert (z.B. klas­sisch im Kirchen­kreis Witt­stock-Ruppin[iv]). Oder „in defi­nierten Gestal­tungs­räumen gibt es die ‚Erlaubnis‘, tradi­tio­nelle … Angebote nicht mehr zu machen“[v]. Bei der Daseins­vor­sorge in entle­genen länd­lichen Gebieten fordern Experten „Frei­räume, um zu expe­ri­men­tieren“[vi]. Sie treten z.B. für eine Lockerung der Berufs­ordnung für Ärzte ein, so dass diese mehr Frei­heiten haben, in mobilen Praxen „umher­zu­ziehen“[vii]. Oft liegt die Stoß­richtung solcher Forde­rungen darin, in Erpro­bungs­räumen recht­liche bzw. orga­ni­sa­to­rische Hürden exem­pla­risch außer Kraft zu setzen. Deswegen war beispiels­weise die Struk­tur­ver­än­derung im Kirchen­kreis Witt­stock-Ruppin flan­kiert von einem Erpro­bungs­gesetz der EKBO.

Die Erpro­bungs­räume der EKM gehen bewusst einen anderen Weg. Denn juris­tische Engfüh­rungen verhindern i.d.R. nicht eine verän­derte Praxis. Wich­tiger als ein voraus­ei­lendes Außer-Kraft-Setzen von Regeln ist die Moti­vation von Akteuren, Neues auszu­pro­bieren. ‚Erlaubnis von oben‘ reicht dafür nicht (mehr) aus. Wenn im Einzelfall dennoch Hürden auftauchen, versucht die Landes­kirche erst dann, pass­genaue Lösungen zu finden.[viii]

Damit wird die entschei­dende Frage thema­ti­siert, wer eigentlich Subjekt der Erprobung ist: Erprobt dort das Landes­kir­chenamt neue Ideen oder probieren Christen vor Ort, das Evan­gelium auf neue Weise zu kommu­ni­zieren? Versucht die Landes­kirche beispiels­weise, durch einen verän­derten Einsatz von Pfarrern in Modell­re­gionen für ihre künftige Perso­nal­po­litik zu lernen? Dies wäre im Grunde ein zentra­lis­ti­sches und hier­ar­chi­sches Modell, weil die Fäden „oben“ zusam­men­laufen. Anders, wenn Christen vor Ort mit neuen Wegen expe­ri­men­tieren, Kirche zu sein. Dazu lädt sie die EKM mit den Erpro­bungs­räumen ein. Christen in Städten und Dörfern sind die Subjekte der Erpro­bungen. Die Landes­kirche versucht, die Prozesse frei zu geben und tritt dabei als Ermög­licher auf.

2) Ein Erpro­bungsraum soll anders sein, und zwar nicht unbe­dingt in Symbolik, Theo­logie oder Bekenntnis, sondern in Bezug auf volks­kirch­liche Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zipien. Die basalen Merkmale Parochie, haupt­amt­licher Pfarrer und Gebäude werden an einer Stelle außer Acht gelassen, wie zum Beispiel bei der Jugend­kirche: Ihre Ziel­gruppe sind nicht die Kirchen­mit­glieder des Pfarr­be­reichs, sondern Jugend­liche in der Region. „Herz­schlag“ arbeitet nicht parochial.

Freilich zeigt sich an der Jugend­kirche auch, dass anders nicht unbe­dingt neu heißen muss. Denn trotz der Modi­fi­kation um die dezen­trale Wirkung ist das Konzept nicht „neu“ im Sinne von „völlig neu“. Aber in Nord­hausen bzw. dem Kirchen­kreis Südharz ist es neu – und somit auch inno­vativ, denn „Inno­vation bezieht sich auf soziale Kontexte, so dass gleiche Hand­lungen in unter­schied­lichen Kontexten und mit verschie­den­ar­tigen Ziel­be­stim­mungen durchaus inno­vativ sein können.“[ix] Es geht also nicht darum, „Dinge zum aller­ersten Mal zu denken, also zu erfinden, sondern vielmehr darin, bereits Bestehendes oder Bekanntes in einem anderen Setting neu zu denken.“[x]

3) Erpro­bungs­räume werden mit o.g. Defi­nition vor allem negativ beschrieben: Die Kirchen­formen sollen „anders“ sein (siehe 2). Wie „anders“ konkret aussieht, gibt die Landes­kirche bewusst nicht vor. Das Logo der Erpro­bungs­räume zeigt eine offene Klammer, die in der Mitte einen Freiraum bzw. einen Leerraum entstehen lässt. Genau darum geht es: Um das Eröffnen von Frei­räumen, in denen mit anderen Kirchen­formen expe­ri­men­tiert werden kann.

Das Logo ruft norma­ler­weise eine doppelte Asso­ziation hervor: Die offene Klammer verweist auf das Weglassen. Einen Freiraum zu haben impli­ziert das Ausbrechen aus manch belas­tender Praxis, so z.B. das Bestands­ver­walten von Gebäuden und Tradi­tionen in den großen länd­lichen Pfarr­be­reichen. Ande­rer­seits weckt die offene Klammer kreative Energie. Der Freiraum als Spiel­wiese, in der neue Ideen geboren und verwirk­licht werden können. Inter­essant an dieser Reaktion, dass sie eine kyber­ne­tische Konjunktion andeutet: Neue Gemein­de­formen können nur entstehen, wenn Bestehende sterben. Bewährtes um jeden Preis am Leben zu erhalten, behindert das Wachsen von Neuem. Insofern ist dem Sterben-Lassen und Trauern künftig besondere Aufmerk­samkeit zu schenken.

4) Natürlich legt die Defi­nition auch positiv fest: Erpro­bungs­räume sind Räume, in denen „andere Sozi­al­formen von Kirche erprobt werden“. Als spezi­fische Differenz solcher Räume werden neben „anders“ bzw. „Kirche“ (dazu unter 6) markiert: das Erproben.

Da die Christen sowohl in volks­kirch­lichen Ecken als auch reli­gi­ons­losen Gebieten der EKM agieren, sehen neue Formen von Kirche ganz verschieden aus. Es kann immer nur kontex­tuelle, also dezen­trale Antworten geben. Diese Vielfalt ist ein Indi­kator für ein komplexes Umfeld. Auf das Cynefin-Framework ist inzwi­schen vielfach rekur­riert worden[xi], die Beschreibung verschie­dener Lebens­räume half bei den Stra­te­gie­über­le­gungen. Weder das Setzen auf best practice in einem simplen Kontext noch das Orien­tieren an guter Praxis unter kompli­zierten Bedin­gungen war ange­zeigt, sondern der Drei­schritt Probieren-Wahr­nehmen-Antworten. Verän­derte Ansätze stellen sich im komplexen Umfeld ein (emergent) und erst im Nach­hinein können Zusam­men­hänge verstanden werden, wenn es sie über­haupt gibt (chaotic cynefin). Sich mit Entde­ckerlust voran­zu­tasten – darauf kommt es in diesen Bereichen an. In den Erpro­bungs­räumen zeigt sich diese Haltung u.a. daran, dass die Handelnden nicht wissen, was mittel­fristig passieren wird. Sie fahren auf Sicht. Dies erfordert Vertrauen und Fehler­freund­lichkeit – und zwar vor Ort und auf landes­kirch­licher Ebene. Denn wo auspro­biert wird, geht auch manches schief. Scheitern, Fehler und Sack­gassen müssen zuge­lassen werden. Wo abre­chen­barer Erfolg und ausge­feilte Projekt­pläne erwartet werden, entsteht eine Atmo­sphäre, in der man nicht expe­ri­men­tieren kann.

6) So unbe­rührt und offen der Raum des Klam­mer­logos auch sein mag: Darin soll Kirche entstehen. Dies ist das einzige inhalt­liche Kriterium, dem ein Erpro­bungsraum genügen muss. Das heißt aber auch: Es muss nichts anderes als Kirche entstehen. Die gefor­derte Anders­ar­tigkeit bezieht sich auf das Wie, nicht auf das Was. Freilich hat man damit die Sache nicht verein­facht, sondern verkom­pli­ziert. Denn alle ekkle­sio­lo­gi­schen Probleme liegen nun auf dem Tisch: Was ist Kirche? Um das zu beschreiben, haben wir eher vermit­telnd verschiedene Tradi­ti­ons­linien kompi­liert: die klas­si­schen drei (bzw. vier) Grund­vollzüge, die Confessio Augustana und Impulse aus der angli­ka­ni­schen Gemein­de­ent­wicklung. Sie sind einge­flossen in gewisse Merkmale, die den Erpro­bungs­räumen zu eigen sein sollen. Diese Merkmale sind noch mit situa­ti­ons­be­zo­genen Erfor­der­nissen ange­rei­chert worden. So weist ein Erpro­bungsraum folgende Kenn­zeichen auf:

  1. In ihnen entsteht Gemeinde Jesu Christi neu.
  2. Sie über­schreiten die volks­kirch­liche Logik an mindestens einer der folgenden Stellen: Parochie, Hauptamt, Kirchengebäude;
  3. Sie erreichen die Uner­reichten mit dem Evan­gelium und laden sie zur Nach­folge ein.
  4. Sie passen sich an den Kontext an und dienen ihm.
  5. In ihnen sind frei­willig Mitar­bei­tende an verant­wort­licher Stelle eingebunden.
  6. Sie erschließen alter­native Finanzquellen.
  7. In ihnen nimmt gelebte Spiri­tua­lität einen zentralen Raum ein.

 

Wo stehen wir?

Erpro­bungsraum der EKM kann werden, wer diese sieben Kriterien erfüllt (oder zu erfüllen beab­sichtigt)[xii] und sich bewirbt. Wer nur vier Kriterien entspricht, kann einen kleinen Erpro­bungsraum bean­tragen und eine Einmal­för­derung erhalten.[xiii] Bewerben können sich Initia­tiven, Kirchen­ge­meinden oder Kirchen­kreise. Bisher gab es zwei Antrags­wellen, 2016 und 2017. Mittels Ausschreibung wurde auf die Bewer­bungs­mo­da­li­täten aufmerksam gemacht; zu einem fest­ge­setzten Stichtag schließt das Zeit­fenster und die Steue­rungs­gruppe wählt aus den Bewerbern die Erpro­bungs­räume bzw. deren Förderung aus. Das gestufte Auswahl­ver­fahren führt nicht nur zu der einfachen Entscheidung „angenommen/​abgelehnt“, sondern legt auch fest, ob evaluiert, fachlich und juris­tisch beraten und/​oder finan­ziell gefördert wird. Denn all das kann man bean­tragen; die Projekt­kosten jedoch nur zu einer Höhe von 50%.

Derzeit gibt es in der EKM 27 „große“ und 5 „kleine“ Erpro­bungs­räume. Wenn man sie syste­ma­ti­sieren will, fällt das schwer. Zu unter­schiedlich das Setting, die Ziel­gruppen und der Ansatz­punkt. Immerhin, wenn man diese Kate­gorien zur Hilfe nimmt, zeigen sich Über­schnei­dungen: Am auffäl­ligsten sicher bei den sieben Stadt­teil­pro­jekten, die allesamt in den stark entkirch­lichten DDR-Plat­ten­bau­ge­bieten verortet sind: Ob in Stendal, in Sömmerda, Gera, Gotha oder Erfurt. Sie haben eine diako­nische Ausrichtung und wenden sich besonders den sozial Schwachen zu, die in diesen Wohn­ge­bieten häufiger zu Hause sind: Es geht hier um Haus­auf­ga­ben­hilfe, um Tafel­arbeit, Paten­schafts­pro­gramme, Frei­zeit­be­treuung in Sport und Spiel – bis hin zu Wieder­ein­glie­de­rungs­maß­nahmen für straf­fällig Gewordene. Doch im Unter­schied zu cari­ta­tiven Einrich­tungen, die ein ähnliches Angebot vorhalten, verstehen sich die Stadt­teil­pro­jekte als Kirche. Sie insze­nieren mit den Kindern biblische Geschichten und gestalten mit Erwach­senen Glau­bens­kurse. Eine weitere Beson­derheit ist das Prinzip der Nähe: Die Mitar­beiter kommen nicht einge­flogen, sondern sie wohnen (meist) auch im Plat­tenbau. Sie sind Nachbarn und gehören so dazu. Es geht weniger um Angebote als um gelebte Bezie­hungen. In Gotha hat der Kirchen­kreis einen Pfarrer in die DDR-Platte entsandt, um dort völlig neu Kirche zu bauen (www​.kirchen​kreis​-gotha​.de/​2​8​6​7​1​.​h​tml) Im Erfurter Norden ist es ein Team von Ehren­amt­lichen, die z.T. unter großem Verzicht seit 10 Jahren am Roten Berg wohnen (www​.jesus​-projekt​-erfurt​.de).

Beim Blick auf die Ziel­gruppen fällt auf, dass neun Erpro­bungs­räume vornehmlich mit jungen Menschen arbeiten. Die Spanne reicht freilich von Kindern bis jungen Erwach­senen. Die evan­ge­lische Grund­schule Hett­stedt beispiels­weise versteht sich selbst als „kirch­licher Ort“[xiv]: Hier soll es nicht nur um Werte- und Wissens­ver­mittlung gehen, sondern um gemeinsame Spiri­tua­lität und Seel­sorge. Wenn Schüler abgeholt werden, ist die Pfar­rerin da, bietet schon mal einen Kaffee an und kommt mit den Eltern unge­zwungen ins Gespräch. Liebevoll herge­richtete Räume stehen für Andachten und Begeg­nungen ausrei­chend zur Verfügung. Auch Info­abende über den christ­lichen Glauben hat die enga­gierte Schul­lei­terin dort schon statt­finden lassen – vor allem für inter­es­sierte Lehrer, die selber aus einem konfes­si­ons­losen Umfeld stammen. Als ein Netzwerk von und für junge Leute agiert auch die Escola Popular, eine evan­ge­lische Capoeira- und Samba­schule. Von Brasilien inspi­riert „inter­pre­tieren sie Kirchen­lieder neu, gestalten Schul­pro­jekte, Konzerte, Auftritte sowie Gottes­dienste und bauen lokale Gruppen auf“[xv]. Ihre Auftritte in der Öffent­lichkeit stellen eine ganz eigene Atmo­sphäre her, die schon manch aufge­heizte Stimmung bei Demons­tra­tionen befriedet hat. Als Erpro­bungsraum will die Escolar Akti­ons­ge­meinden an verschie­denen Stellen aufbauen, die sich um Gottes­dienste an öffent­lichen Orten herum bilden.

Mögli­cher­weise reichen schon die kurzen Skizzen, um eines zu verdeut­lichen: Meistens gab es die Initia­tiven schon vor dem landes­kirch­lichen Prozess der Erpro­bungs­räume. 16 der 27 Projekte waren bereits gestartet, bei fünf hat sich durch die Aufnahme in das Programm eine neue Dynamik einge­stellt und nur sieben sind wirklich völlig neu. Für sie bildete der landes­kirch­liche Prozess den Anlass, eine z.T. länger gehegte Idee umzu­setzen. Das bedeutet auch, dass die Erpro­bungs­räume bisher bereits Bestehendes einsammeln, den anderen Gemein­de­formen Schutz gewähren, sie begleiten und voran­zu­bringen suchen. Die landes­kirch­liche Appro­bation bedeutet den Akteuren vor Ort meist viel: Aner­kennung und Wert­schätzung. Außerdem bringt es die Pioniere unter einem Schirm zusammen und bietet Möglich­keiten der Vernetzung, Weiter­bildung etc.

Ziel des Prozesses ist es freilich, dass sich Christen mit Pionier­geist und Verän­de­rungs­willen durch das landes­kirch­liche Programm aufmachen, neue Wege zu beschreiten. Dazu ist die Frage der Kultur entscheidend – nicht so sehr einzelne Modelle. Wie wird jemand „ange­sehen“, der Verän­de­rungs­ideen hat? Werden neue Veran­stal­tungs­formate mit Argwohn beäugt oder inter­es­siert disku­tiert? Verspüren Kritiker die Freiheit, ihrem Ärger Luft zu machen? Mit den Erpro­bungs­räumen will die EKM einen Schritt in Richtung inno­va­ti­ons­freund­liche Kirche gehen.

Histo­risch hat der Prozess seinen Ursprung in der Koope­ration bzw. Fusion der beiden früheren Landes­kirchen in Thüringen und Sachsen-Anhalt. In der Verfassung der EKM aus dem Jahre 2008 sind andere Gemein­de­formen ausdrücklich vorge­sehen: „Gemeind­liches Leben geschieht auch in verschie­denen Bereichen der Bildung, im Zusam­menhang beson­derer Berufs- und Lebens­si­tua­tionen, in geist­lichen Zentren und in Gruppen mit beson­derer Prägung von Fröm­migkeit und Enga­gement sowie in Gemeinden auf Zeit.“ (Art II, Abs 2) Den Schwung der Verei­nigung nahm die erste Landes­synode mit, dachte und plante unter dem Motto „Als Gemeinde unterwegs“. Sie wollte in den ganzen Struk­tur­de­batten einen Kontra­punkt setzen: „Fragen und Themen der inneren und geist­lichen Entwicklung unserer Kirche und ihrer Gemeinden“[xvi] waren auf der Agenda. Maßgeblich inspi­riert wurde der Prozess durch program­ma­tische Bischofs­be­richte, z.B. in den beiden Früh­jahren 2012/13.[xvii] Wiederholt forderte Landes­bi­schöfin Ilse Junkermann den Umbau. „Gemeinde neu zu denken“ sei das Stichwort. Als man bei dem Gemein­de­kon­gress 2012 in Halle/​S merkte, wie viele Menschen in der EKM dies bereits tun, war es zu den Erpro­bungs­räumen nur noch ein kleiner Schritt.[xviii]

So unter­stützte die Landes­synode im Herbst 2014 den vorge­legten Projekt­entwurf „Erpro­bungs­räume“ und ermu­tigte, „neue Gemein­de­formen im säku­laren Kontext zu erproben. Hierzu bedarf es einer großen Offenheit. Die Landes­synode bittet das Landes­kir­chenamt, eine Steue­rungs­gruppe zur weiteren Ausge­staltung des Projektes einzu­setzen und ihr über den Stand des Projektes regel­mäßig zu berichten.“[xix] Mit diesem knappen Beschluss waren die Erpro­bungs­räume geboren und das Projekt­design vorge­geben: Eine vom Kollegium des Landes­kir­chen­amtes einge­setzte Steue­rungs­gruppe regelt das operative Geschäft. Ihr gehören zwölf Vertreter unter­schied­licher Bereiche und Regionen an. Der Fach­beirat begleitet deren Arbeit kritisch. Die Geschäfts­führung der „Erpro­bungs­räume“ liegt im Dezernat Gemeinde (Referat Gemeinde und Seel­sorge) des Landes­kir­chen­amtes. An der Evaluation des Prozesses sowie einzelner Projekte sind das IEEG der Uni Greifswald sowie das SI der EKD beteiligt. Zur finan­zi­ellen Ausstattung hat die Landes­synode damals 2,5 Mio Euro bewilligt, ein Betrag, der inzwi­schen 2x aufge­stockt werden konnte.

Hinter­gründe / Motivation

Hinter­grund und zugleich Moti­vation zum Projekt sind verschiedene Entwick­lungen, die hier skiz­zenhaft darge­stellt werden:

1) Seit einigen Jahren schon lässt sich in der EKM beob­achten, dass bisherige volks­kirch­liche Muster, bewährte Prak­tiken und Sozi­al­formen dysfunk­tional geworden sind. Sie passen nicht mehr in eine Minder­hei­ten­si­tuation, sind aber weit­gehend fort­ge­führt worden. So gehorchen kirch­liche Planungen noch immer dem Para­digma einer flächen­de­ckenden haupt­amt­lichen Versor­gungs­kirche. Über­dehnung, Frus­tration und Ermüdung sind die Folgen. „Die Entwicklung ist an einem Punkt ange­langt, an dem deutlich gesagt und einge­standen werden muss: Wir sind am Ende unserer bishe­rigen Möglich­keiten. Für viele ist bitter: Alle Anstren­gungen bisher konnten die Verän­de­rungen nicht stoppen. Waren sie vergeblich, die Zusam­men­schlüsse … , die Neuzu­schnitte von Dienst­auf­trägen, … die kompli­zierten Gottes­dienst­pläne, die vielen gefah­renen Kilo­meter, die vielen Arbeits­stunden? So fragen sich viele.“[xx]

2) Abschied nehmen und Sterben lassen führt zu neuen Frei­räumen. Eine konstruktive Ratlo­sigkeit bricht sich Bahn. „Radikal verän­derte Situa­tionen … besitzen das Potenzial, Inno­va­tionen zu stimu­lieren.“[xxi] So kommt es neben den Erfah­rungen mit Abbrüchen auch zu ermu­ti­genden Aufbrüchen: Die Pfarr­scheune wird zum Begeg­nungs­zentrum im Dorf, Gemeinden feiern auch ohne Pfar­rerIn Gottes­dienst, in Stadt­teil­zentren werden neue Ziel­gruppen mit dem Evan­gelium erreicht etc. Diese Aufbrüche orien­tieren sich weniger an gewach­senen Struk­turen. Geogra­phische Zustän­dig­keiten spielen eine unter­ge­ordnete Rolle. Statt auf Angebote zu festen Zeiten setzen sie auf netz­werk­artige Struk­turen, spontane Begeg­nungen und persön­liche Bezie­hungen. Solche Aufbrüche sollen mit den Erpro­bungs­räumen gesucht, gefördert und verstärkt werden.

3) Mit den skiz­zierten Entwick­lungen steht die EKM bzw. die EKD nicht allein: Ganz ähnlich ergeht es Bistümern und Landes­kirchen in der euro­päi­schen Nach­bar­schaft bzw. manch etablierten Kirchen weltweit. Neben dem allge­meinen Niedergang und der Dysfunk­tio­na­lität von Sozi­al­struk­turen lassen sich dort das Entstehen von anderen Gemein­de­formen beob­achten. So gibt es in der rasant schrump­fenden Protes­tan­ti­schen Kirche in den Nieder­landen inzwi­schen 84 pioniersplekken, in denen ca. 5.000 Personen das erste Mal mit dem Glauben in Berührung gekommen sind.[xxii] In Frank­reich und Öster­reich gründet man Basis­ge­meinden (Poitiers, Linz) oder ruft die „novelle Paroisse“ (Lyon) aus.[xxiii] In Groß­bri­tannien schließlich ist man schon 2004 darauf aufmerksam geworden, dass sich an der Basis neue Formen von Kirche etabliert haben (fresh expres­sions of church).[xxiv] Wohin diese Umbrüche jeweils führen, ist nicht klar auszu­machen. Das Handeln der Kirchen­lei­tungen erfolgt (meist) tastend, reagierend und ermög­li­chend. Man nimmt auf, was bereits wächst, fördert es, versucht es zu multi­pli­zieren und expe­ri­men­tiert mit neuen Wegen.

4) Auch in anderen gesell­schaft­lichen Teil­be­reichen werden bisherige Sozi­al­formen porös, neue brechen sich – meist von der Basis her – Bahn. In der Sozio­logie unter­sucht man solche Sozialen Inno­va­tionen, die durch mehr Parti­zi­pation der direkt betrof­fenen Menschen zu einer besseren Befrie­digung der Bedürf­nisse führen (z.B. Carsharing).[xxv] LEADER als Programm für länd­liche Entwicklung zeigt dabei, welche Rolle leitendes Handeln innehat: Das Zusam­men­bringen lokaler Akteure, des Aufgreifen und Ermög­lichen ihrer Ideen. Solche Ansätze in Stadt- und Regio­nal­planung zu beob­achten, ist eine weitere wichtige Inspi­ra­ti­ons­quelle für den landes­kirch­lichen Prozess der Erprobungsräume.

 

Heraus­for­de­rungen und offene Fragen

Die bereits skiz­zierte Stra­tegie des prozess­haften Voran­tastens betrifft auch die Ebene der landes­kirch­lichen Steuerung. Es gibt damit bisher wenig Erfah­rungen. Die Erpro­bungs­räume stellen bisher ein singu­läres Programm in der EKD dar. So gab es immer wieder Punkte, wo die Steue­rungs­gruppe nach­jus­tiert hat. Und auch weiterhin sind wir mit Fragen konfron­tiert, deren kurzes Skiz­zieren diesen Beitrag beschließen soll:

1) Wo ordnet man einen Erpro­bungsraum in der Land­schaft der kirch­lichen Körper­schaften ein? Als Werk? Als Kirchen­ge­meinde? Als Verein? Zunächst wenig beachtet, taucht dieses Thema verstärkt auf. Neulich hörten wir von dem Wunsch zweier Erpro­bungsraum-Besucher, getauft zu werden. Wer ist aber dafür zuständig? In welche Bücher werden sie einge­tragen? Wer erhält die Kirchen­steuer für sie? Die bisherige Regelung, dass die jeweilige Parochie einspringt, ist auf Dauer nicht befrie­digend. Aller­dings benö­tigen die Erpro­bungs­räume auch „leichte“ Struk­turen. Sonst drohen sie, schwer­fällig und unbe­weglich zu werden…

2) Wie steuert man eigentlich Verän­de­rungs­pro­zesse „von oben“? Die eigent­lichen Erneue­rungen werden von den Menschen vor Ort getragen. Doch wie erreicht und moti­viert man sie? Die landes­kirch­liche Steuerung der Erpro­bungs­räume setzte bisher auf Ausschrei­bungen im internen Pres­se­organ, Veröf­fent­li­chungen im Amts­blatt und Referate in leitenden Gremien. Dies alles sind bewährte Instru­mente einer Insti­tution. Die Reich­wei­ten­pro­ble­matik wird auch nur begrenzt durch eine verän­derte Öffent­lich­keits­arbeit gelöst, denn zentrale und teure Kampagnen verpuffen allzu leicht. Um Verän­de­rungs­willige an der Basis zu erreichen, bedarf es einer Steuerung im Netzwerk. Gerade, weil Christen mit Pionier­geist eher Grenz­gänger sind und selten in Gremien sitzen. Derzeit erproben wir alter­native Instru­mente bzw. Kanäle.

3) Was kommt nach den Erpro­bungs­räumen? Das landes­kirch­liche Programm ist zeitlich befristet. Nur fünf, maximal sechs Jahre kann die Förderung gewährt werden. Sie ist eher als Start­hilfe zu verstehen. Nach einiger Zeit müssen die Initia­tiven auf eigenen Füßen stehen. Deshalb sollen sie von Beginn an „alter­native Finanz­quellen“ erschließen und bekommen nur 50% gefördert. Aller­dings wissen wir, dass neue Gemein­de­formen Zeit brauchen, bis sie sich etabliert haben. Die Protes­tan­tische Kirche in den Nieder­landen formu­liert eine ihrer Lern­erfah­rungen mit dem „Pioniering“ so: „More time needed than expected! … Expe­rience teaches us that pioneering places usually need five to ten years before they can be self-reliant.“[xxvi] Dieser eminent wichtige Punkt der Nach­hal­tigkeit wird die Steue­rungs­gruppe weiter beschäftigen.

[i] Mehr darüber unter www​.herz​schlag​.me. Die Aussagen wurden von Gina während eines Video­drehs gemacht.

[ii] So sagt es die „Ordnung“ für das Projekt „Erpro­bungs­räume“ vom 27.10.2015. Zu finden unter www​.erpro​bungs​raeume​-ekm​.de

[iii] So werden Erpro­bungs­räume z.B. in der Juni 2016-Ausgabe der Zeit­schrift für Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wicklung und Gemein­de­be­ratung verstanden: Die Rubrik „Erpro­bungs­räume“ wird mit folgender Frage näher bestimmt: „Welche Verän­de­rungen in der regio­nalen Zusam­men­arbeit tauchen auf?“ (Heft 16, Juni 2016, 5).

[iv] Vgl. dazu Evaluation der Reform des Kirchen­kreises Witt­stock-Ruppin, hg.v. Martin Alex, Juliane Kleemann und David Lissig, (Material des EKD-Zentrum für Mission in der Region), Dortmund 2012.

[v] Eines der Möglich­keiten im Prozess „So kann es gehen… – Gemeinden erproben neue Wege“, der beim Gemein­de­dienst der Nord­kirche ange­siedelt ist (vgl. www​.gemein​de​dienst​-nord​kirche​.de/​a​k​t​u​e​l​l​e​s​/​n​a​c​h​r​i​c​h​t​e​n​/​g​e​m​e​i​n​d​e​n​-​e​r​p​r​o​b​e​n​-​n​e​u​e​-​w​e​g​e​.​h​tml)

[vi] So Manuel Slupina in Land­InForm 2/2015, 47. Der Beitrag ist über­schrieben mit: “Wir brauchen Frei­räume, um zu experimentieren.“

[vii] Vgl. dazu die Studie des Berlin-Instituts für Bevöl­kerung und Entwicklung (Hg.), Von Hürden und Helden. Wie sich das Leben auf dem Land neu erfinden lässt, Berlin 2015, 11–18.28–30.

[viii] Gespräche mit Vertretern der west­fä­li­schen Landes­kirche haben uns darin bestärkt. Nach einge­hender Diskussion dieser Frage hatte man sich dort entschieden, einzel­fall­be­zogen zu reagieren.

[ix] Stephan Beetz, Inno­va­ti­ons­mi­lieus und Inno­va­ti­ons­deu­tungen in ländlich-peri­pheren Regionen, in: Land­liebe-Land­leben. Länd­licher Raum im Spiegel von Sozi­al­wis­sen­schaften und Planungs­theorie, hg.v. Uwe Altrock u.a., (Planungs­rund­schau 12/2005), 51–67, 64.

[x] Thomas Schlegel/​Jörg Zehelein/​Claudia Heidig/​Andreas Turetschek/​Stefanie Schwen­ken­becher und Heike Brei­ten­stein, Land­auf­wärts – Inno­vative Beispiele missio­na­ri­scher Praxis in peri­pheren, länd­lichen Räumen. Die Greifs­walder Studie, in: Freiraum und Inno­va­ti­ons­druck, Der Beitrag länd­licher Kirchen­ent­wicklung in „peri­pheren Räumen“ zur Zukunft der evan­ge­li­schen Kirche, hg.v. Kirchenamt der EKD, (KiA, 12), Leipzig 2016, 171–344, 333.

[xi] Am rele­van­testen in diesem Zusam­menhang Isabel Hartmann/​Reiner Knieling, Gemeinde neu denken. Geist­liche Orien­tierung in wach­sender Komple­xität, Gütersloh 2014.

[xii] Freilich können Projekte, die noch nicht gestartet sind, die Einhaltung der Kriterien nur beabsichtigen.

[xiii] Diese gestufte Variante haben wir von Beginn an mitge­dacht, um die Latte für kleinere Projekte nicht zu hoch zu hängen.

[xiv] So die immer noch hilf­reiche Formu­lierung von Uta Pohl-Patalong, Von der Orts­kirche zu kirch­lichen Orten: ein Zukunfts­modell, 2. erw. und überarb. Aufl., Göttingen 2006.

[xv] Vgl. www​.escola​-popular​.de

[xvi] So beschrieb Dietlind Stein­höfel den Weg in „Glaube und Heimat“ (2.12.2014).

[xvii] Ilse Junkermann, „Ihr alle seid durch die Taufe berufen …!“ (Frühjahr 2012) und „…sondern die zukünftige suchen wir.“ (Frühjahr 2013). Zu finden unter www​.ekmd​.de/​k​i​r​c​h​e​/​l​a​n​d​e​s​b​i​s​c​h​o​e​f​i​n​/​b​e​r​i​c​h​t​e​_​s​y​n​o​de/

[xviii] Der Kongress stand unter dem Motto „Lass wachsen.“ Gemeinden der EKM wurden gebeten, ihre tägliche und außer­all­täg­liche Arbeit zu präsen­tieren. Der Katalog gibt noch immer einen leben­digen Eindruck von der Vielzahl der Initia­tiven www​.gemein​de​dienst​-ekm​.de/​s​e​r​v​i​c​e​-​k​o​n​t​a​k​t​/​a​r​c​h​i​v​/​g​e​m​e​i​n​d​e​k​o​n​g​r​e​ss/

[xix] So der Beschluss 6.2 der 14. Tagung der I. Landes­synode vom 19.–22. November 2014 in Erfurt. Näheres unter www​.ekmd​.de/​k​i​r​c​h​e​/​l​a​n​d​e​s​s​y​n​o​d​e​/​t​a​g​u​n​g​en/

[xx] Ilse Junkermann, Gemeinde neu finden – vom Rückbau zum Umbau, in: VELKD-Infor­ma­tionen 145/2014, 2–6, hier 2f.

[xxi] Hauschildt, Eberhard/​Herbst, Michael/​Schlegel, Thomas, Gemein­sames Fazit und Thesen, in: Freiraum und Inno­va­ti­ons­druck (vgl. Anm. X), 399–406, hier 405.

[xxii] www​.protes​tant​sekerk​.nl/​p​i​o​n​i​e​ren

[xxiii] Vgl. dazu das schon klas­sische Einfüh­rungsbuch: Reinhard Feiter/​Hadwig Müller (Hrsg.), Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof? Ermu­ti­gende Erfah­rungen der Gemein­de­bildung in Poitiers, 6. Aufl., Ostfildern 2014.

[xxiv] Vgl. www​.fres​h​ex​pres​sions​.org​.uk/ Auch in Deutschland hat sich ein Netzwerk von Sympa­thi­santen gegründet, die Idee und Ansatz der engli­schen Bewegung in Deutschland streuen und für deutsche Verhält­nisse adap­tieren wollen. Die EKM gehört neben fünf anderen Landes­kirchen bzw. Bistümern und freien Werken zum “Fresh X – Netzwerk e.V.” Vgl. http://​fres​h​ex​pres​sions​.de/

[xxv] Vgl. den einfüh­renden Reader von Jürgen Howaldt/​Heike Jacobsen (Hrsg.), Soziale Inno­vation. Auf dem Weg zu einem post­in­dus­tri­ellen Inno­va­ti­ons­pa­ra­digma, Wies­baden 2010.

[xxvi] Protes­tantse Kerk (Hg.), Fingers Crossed, Deve­lo­p­ments, lessons learnt und chal­lenges after eight years of pioneering, Utrecht 2017, 13.

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