Kirchlicher Aktionismus während der Krise?
Nach den letzten beiden, sehr intensiven Wochen, die auch für Kirche und Gemeinde von COVID-19 und den Beschränkungen geprägt sind, nehmen wir viel Engagement wahr, viel Erproben, viel Neues. Ist das immer gut? In welche Richtung können wir gehen?
Wir haben verschiedene Stimmen von kirchlichen Vertreter*innen eingefangen und gefragt, wie es ihnen persönlich geht, was sie wahrnehmen und empfinden, gestartet haben oder einfach mal bleiben lassen. Eine besondere Fastenzeit, um Ruhe zu finden oder im Gegenteil: etwas Neues starten? Der Gedanke, welcher nach den ersten Wochen mitschwingt, ist ein ambivalenter. Kirche sieht Chancen und ergreift sie, ist euphorisch und mutig. Ja, sehr gut! Kirchenzeit ist Erprobungszeit. Doch ist es an manchen Stellen zu viel?
Zwischen analoger und digitaler Gemeinde
Jan Foit ist Pfarrer im Kirchenkreis Arnstadt-Ilmenau und ist wie viele Eltern selbst einerseits vor Aufgaben von Homeschooling und dem Tobe-Bedürfnis der Kinder gestellt, andererseits sind da der ungewohnte Gemeindealltag und Papierkram, „der gegen den Virus immun ist“.
Das Gemeindeleben geht ohne die gewohnte Nähe aus Gottesdiensten, Kirchenkaffee, Kindertreffen usw. weiter: Es werden Bibellesepläne und geistliche Impulse über WhatsApp-Broadcast-Listen verschickt, Themen für Konfirmanden und Glaubenskurse bleiben aktuell. Der Gemeindekirchenrat muss weiterlaufen und braucht Informationen – Menschen brauchen weiterhin Gespräch, Austausch und Nähe. „Mit den Senioren bleiben wir über Telefongespräche in Kontakt“, sagt Foit. Gerade die Älteren haben als Risikogruppe Angst und vermehrt Sorgen und verständlich ist, dass gerade da der Kontakt nicht abreißen sollte.
Weiter erklärt er: „Als Gemeinde verzichten wir jedoch darauf, wie es gerade einige Kollegen ausprobieren, unsere Gottesdienste über YouTube zu veröffentlichen. Da gibt es bereits einige gute Dinge von den Online-Profis, auch von Freikirchen entstehen da professionelle und erbauliche Dinge.“
In den letzten Tagen kann man aber auch beobachten, dass der Aktionismus auf schiefe Bahnen gerät, wenn sich auf ganz neue Felder gewagt wird, ohne es vorher je ausprobiert zu haben. „… sodass das social bzw. physical distancing eher ein church distancing befördern könnte“.
Vertrauen wir auf die, die die Begabung haben, diese Dinge zu produzieren und investieren wir unsere Ideen und Kraft auf die Dinge innerhalb der eigenen Gemeindegrenzen – unsere Gemeindeglieder brauchen über die Distanz hinweg viel mehr Aufmerksamkeit in einer ungewissen Zeit, persönlich Erbauliches, ein ermutigendes Wort, eine Podcast-Predigt (oder eine einfache Voicemail, Sprachnachricht!), wie sie sie auch am Wochenende hören würden. Schade wäre es, wenn wir Energie aufwenden, aber unseren Fokus in Bereichen verlieren, die uns vielleicht nicht einmal mehr liegen (und die eigene Gemeinde erwartet das ggf. nicht einmal!).
“Wir müssen aufpassen, dass wir statt einem social bzw. physical distancing nicht eher ein church distancing befördern.”
J. Foit
Auf Instagram die Kirche im Dorf lassen.
Eine Pfarrerin aus der Nordkirche, Josephine Teske, ist unter anderem auch Pfarrerin auf Instagram – doch das bedeutet für sie nicht zwangsläufig etwas an ihrer Instagram-Präsenz zu verändern oder an ihrem „Profil“ als Pfarrerin. Sie streamt keine Gottesdienste, ist nicht zusätzlich auf YouTube unterwegs, sondern macht das weiter, was sie bisher am besten konnte und intensiviert dies: Beziehungsarbeit. Persönliche Gespräche und Nachrichten. Einblick in ihren Alltag mit zwei Kindern. Die Menschen haben weiterhin Fragen an sie und erwarten nicht, dass sie etwas an ihrer Fokussierung ändert, sie erwarten viel mehr ein persönliches Wort, eine Stellungnahme, einen kleinen Scherz. Natürlich erwarten auch einige ihrer Follower einen Ostergottesdienst von ihr. Laut einer Umfrage auf Instagram gucken aber 82% ihrer Follower derzeit gern die Gottesdienste anderer Gemeinden online, welche sie vorher nicht kannten, welche aber professionell und gut aufgezogen sind. Ihre Pfarrerin liegt ihnen da derzeit in anderen Belangen am Herzen. Josephine gibt zu bedenken, dass sie den geplanten Gottesdienst für ihre Gemeinde nicht einfach so digital stattfinden lassen kann.
Dieser Gedanke ist m.E. sehr wichtig: Was braucht es wirklich? Was ist meine Gabe, mein persönliches Profil und mein Ziel mit der mir anvertrauten Community?
Diese Krise lässt uns schon ganz automatisch gewohnte Wege verlassen und wir müssen das, was wir tun, in einem neuen Rahmen tun und damit auch erproben („denn Erproben ist der Normalzustand von Kirche“ – Thomas Schlegel!).
Außerhalb der Grenzen: den Blick bewahren.
Zwei Verantwortliche aus dem Erprobungsraum Terebinthia e.V. sind zur Zeit auf Lesbos und berichten über die Zustände und die Sorge, dass die Krise in der Krise vergessen wird. COVID-19 ist ein Problem, das einiges verschlimmert. Thea schreibt über Moria:
“Wie sollen 20.000 Menschen in einem Camp für 3000 Menschen einen Virus eindämmen? Es gibt Teile in Moria, in denen sich 1000 Menschen ein Waschbecken teilen. In Zeiten von Corona ist es schwer, den Überblick zu bewahren über andere politische Entwicklungen in Europa. Aber genau das ist super wichtig! Wir befinden uns in einer kritischen Zeit, lasst uns nicht wegschauen, wenn die EU und Deutschland die Situation ausnutzt um menschenverachtende Politik umzusetzen.”
Die Luft wird dünner? Enger?
Ulrike von Terebinthia berichtet selbst:
Eine Bekannte aus Leipzig, die für die Diakonie arbeitet schrieb gestern: “Wir merken in den Ambulanten Hilfen schon nach den wenigen Tagen einen Anstieg an psychischen Problemen, Zuspitzung von kritischen Konstellation und Konflikten bis zur Gewalt in häuslichen Situationen.
Achtet auf eure Freunde und Nachbarn, bietet Gespräch, Telefonat etc. an und hört gut hin oder fragt mal nach, wenn jemand klagt.” Ich fände wichtig, dass dieses Thema Publik gemacht wird: das wird vor allem in den Großstädten aber auch anderorts ein Problem sein und es ist wichtig die Menschen zu ihrer sozialen Verantwortung als Nachbarn zu sensibilisieren. Gut, dass zur Zeit viele Seelsorgende und Beratungsstellen schnell reagieren.
Also es gilt ganz stark: “Das Wenige das du tun kannst, ist viel”.
Diese Geschichten sensibilisieren dafür, dass wir nicht nur mit dieser Krise kämpfen, sondern dass diese Krise noch mehr hervorruft und viel nach sich zieht, was wir jetzt noch nicht überschauen können. Nicht Wegschauen, selbst aber auch Kraft tanken und Ruhe finden, um in den nächsten Wochen und Monaten weiterhin mitwirken und sich investieren zu können.
“Das Wenige, das du tust, kann so viel sein.”
Ulrike, Terbinthia e.V.
Den Fokus neu setzen.
Jutta Noetzel ist reformierte Pfarrerin in Halle und im Bischofsvorstand der EKM. Sie ist berührt von den Geistlichen, welche ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um in Italien und Spanien zu helfen. Sie leidet mit den Flüchtlingen an der griechischen Grenze und spricht sich für die schnelle Aufnahme nach Deutschland aus. Für sie ist es ebenso ein ambivalentes Gefühl: Das Positive des kirchlichen Aufbruchs und die Energie zu sehen und gleichzeitig Sorge und Leid empfinden, für das, was Innen und Außen passiert.
In dieser Phase sieht sie, wie sich neue Formate in der Gemeinde auftun, neue Chancen ermöglichen. Doch abgesehen davon, ist es auch heilsam, eine Pause zu bekommen. Sie selbst und auch viele in ihrem Bekanntenkreis können aufatmen und merken jetzt, wie sie sonst von einem zum anderen Termin gehetzt sind.
Für Gemeinden kann es heilsam sein, gerade jetzt, wo der normale Gemeindealltag nicht mehr weitergeht, den Fokus neu zu setzen. Wo ist allgemein unsere Aufgabe? Und was können wir jetzt tun?
Brauchen wir das wirklich oder ist es Eigen-Marketing?
Die Gefahr bzw. die Ambivalenz dieser Zeit für unsere Kirche sieht Noetzel gegeben, wie sie aber auch immer schon besteht: “Dahinter steht doch, ob das Angebot gemacht wird, weil man sieht, dass es es gebraucht wird (gibt es die Menschen, für die ich etwas vorgedacht habe überhaupt in meinem Kreis?), oder, ob es verbreitet und angeboten wird, um sich selbst zu zeigen und zu vermarkten.”
Hausandachten: Menschen ermächtigen und ermutigen.
Jutta Noetzel hat sich von Pfarrer Werner Mayknecht aus Landsberg inspirieren lassen und feiert Hausandachten und gibt Anleitungen, um selbst etwas auszuprobieren. Sie sieht neben zahlreichen Aktionen nun hier die Möglichkeit, dass Menschen aus der Gemeinde ermächtigt und ermutigt werden, selbst wieder eine ritualisierte Spiritualität für sich zu etablieren und ihr Glaubensleben in dieser Zeit selbst in die Hand nehmen (zu müssen).
#Zwischenruf
Ein neuer Text der ChurchConvention in der EKM fasst das Wahrgenomme gut zusammen und ermutigt, “zu sein” und “zu hören”.
So viele Gemeinden und Kirchenbezirke haben sich aufgemacht, um innovativ (und meist digital) bei den Menschen zu sein, um sie in dieser besonderen, herausfordernden Zeit geistlich zu begleiten. Das ist wunderbar und stimmt zuversichtlich mit Blick auf all die Herausforderungen und die Veränderungen, vor denen Kirche mit Blick auf die Zukunft steht. Es ist wichtig, dass wir als Kirche sichtbar, hilfreich und wegweisend bleiben in der Corona-Krise.
Zugleich mehren sich innerhalb unseres Netzwerkes die Stimmen, die rufen „Halt an, wo läufst du hin?“. Dahinter steht die Beobachtung, dass beinahe jede und jeder von uns schon vor Corona leicht überhitzt seinem Tagesgeschäft und all den Zusatzprojekten und ‑ideen nachgejagt ist. Jetzt bleiben die Kirchen auf einmal zu, Besuche hören auf, Schule und Konfi fallen aus, Hochzeiten werden abgesagt, riesige Zeit-Freiräume entstehen – und fast alle von uns stürzen sich sofort weiter in die Arbeit, manche noch überhitzter als zuvor: wir rödeln, produzieren, streamen, chatten und posten, was das Zeug hält.
Dabei befinden wir uns in der größten Krise nach dem zweiten Weltkrieg. Wäre es nicht an der Zeit, jetzt bewusst innezuhalten und Gott zu fragen, wie das alles zu bewerten und zu verstehen ist? „Seid stille, und erkennt, dass ich Gott bin!“ (Psalm 46,11) Wäre es nicht an der Zeit, um Gott im Gebet zu suchen und unser Herz von ihm anrühren und mit Frieden und Weisheit füllen zu lassen? Was sollen wir wirklich tun und was sollen wir lassen? Wieviel von unserem Tun sind einfach nur alte „Arbeits-Reflexe“?
Und was ist mit unseren Familien? Auch die brauchen in dieser besonderen Zeit (deutlich) mehr Zuwendung und Kraft von uns. Wenn wir all die „Überstunden“ der letzten Jahre addieren, können (ja sollten wir vielleicht sogar) die kommenden Wochen ausführlich und ohne schlechtes Gewissen Zeit mit unseren Lieben verbringen. Geschenkte Zeit. Dazu braucht es jedoch eine bewusste Entscheidung unsererseits in Kopf und Herz!
Und schließlich noch ein letzter Gedanke: Vielleicht sind unsere Gemeinden ja fähiger als wir denken, sich eine Zeit lang selber geistlich zu versorgen. Vielleicht hilft ihnen diese Zeit, (weitere) Schritte zu gehen in Richtung Verantwortung für die eigene Gottesbeziehung. Zumindest sollten unsere Impulse und Hilfestellungen sicher (auch) in diese Richtung gehen.
So, wir geben zu: das war ganz schön viel. Ganz schön viel „vielleicht“ und „sollte“. Wir befehlen Euch all diese Gedanken an im Wissen darum, dass wir alle aus der Gnade leben ? Und wir wollen auch nochmal klar sagen: Es geht uns keinesfalls darum, alles engagierte und kreative Arbeiten unter den Verdacht von Ungeistlichkeit zu stellen. Auf gar keinen Fall! Wozu wir ermutigen wollen, ist schlicht: Jede und jeder prüfe für sich und vor Gott (und gerne auch mit anderen), was für sie oder ihn „dran“ ist. Wir wollen ermutigen, in diesen Zeiten lieber etwas weniger „zu machen“ und dafür mehr „zu sein“ und „zu hören“.
Mehr zur Church Convention auf: www.churchconvention.de
„Seid stille, und erkennt, dass ich Gott bin!“
Psalm 46,11