Ein neuer Typus Kirche
Der zweite Band der Reihe StadtLand:Kirche, über Projekte unseres Erprobungsraumes
Sie sind identitätsstiftend und ortsbildprägend: 99 Prozent der etwa 2.000 evangelischen Kirchen in
Thüringen stehen unter Denkmalschutz. Sie sind ein bauhistorischer und kultureller Schatz. Doch die
Pflege und Wahrung von Grundstücken, Pfarrhäusern und Kirchen wird angesichts des
demografischen Wandels und abnehmender Kirchenmitgliederzahlen immer schwieriger.
Um die Kirchen als wertvolle Baudenkmale und spirituelle Orte erhalten zu können, müssen also
neue Wege gefunden werden, sie wieder mit Leben zu füllen. In Thüringen haben sich seit 2016
unter der Schirmherrschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der Internationalen
Bauausstellung (IBA) Thüringen engagierte Kirchgemeinden mit Akteurinnen und Akteuren vor Ort
vernetzt, um die Nutzung ihrer Sakralbauten neu zu denken und sich dem Wandel von Kirche zu
stellen.
Der zweite Band der Reihe StadtLand:Kirche stellt diese ambitionierten Projekte von
Mehrfachnutzungen wie die Her®bergskirchen im Thüringer Wald, die Bienen-Garten-Kirche in
Roldisleben oder das geplante soziokulturelle Zentrum in Apolda vor und bettet sie ein in den
Kontext der großen Fragen nach dem ländlichen geprägten Raum Thüringens und seiner Zukunft.
Man begreift aber den innovativen Wert dieser Modellprojekte erst, wenn der Prozess anschaulich
wird, der ihre Realisierung begleitet. So formuliert sich der Fokus des Buches: Geschildert wird der
interdisziplinäre Prozess, die Erfolge und auch die Misserfolge, welche zu mutigen Projekten
dazugehören. Vor allem wird deutlich, was möglich ist, wenn sich die Kirche öffnet und der
Zivilgesellschaft die Hand reicht. So entsteht ein neuer Typus Kirche!
Die Publikation enthält unter anderem Beiträge von: Reinhard Blomert, Heinz Bude, Susanne Dähner,
Marta Doehler-Behzadi, Thomas Erne, Volker Gerhardt, Sonja Keller, Hansjürgen Küster, Hartmut
Leppin und Geert Mak.
Landesbischof Friedrich Kramer, der auch Schirmherr des Projektes „500 Kirchen 500 Ideen“ ist,
betont in einem im Buch dokumentierten Gespräch: „Wir Christen haben natürlich das beste Konzept
für die Nutzung der Kirche. Dafür ist sie ja da: fürs Singen, fürs Beten, fürs Loben. Wenn wir aber so
wenige sind, dass wir sie dafür allein nicht mehr brauchen, ist trotzdem die Kirche die Seele des
Ortes. Es stellt sich dann die Frage, wie wir würdig mit ihr umgehen und etwas weiterentwickeln …
Die Kirchen gehören nicht uns allein … Wir müssen unsere Kirchen in und für die Gesellschaft
erhalten und deshalb braucht es auch eine gemeinschaftliche Nutzung.“
Aus der Einleitung
Kirchen sind identitätsstiftend und fast immer ortsbildprägend. Und obgleich sie einen unglaublichen
bauhistorischen und kulturellen Schatz darstellen und sie in den letzten 30 Jahren mit viel Kraft,
Engagement und Geld gepflegt und häufig vor dem endgültigen Verfall gerettet worden sind, steht es
auf Dauer nicht gut um sie. Die Pflege und Wahrung von Grundstücken, Pfarrhäusern und eben
dieser Kirchgebäude wird angesichts einer abnehmenden Zahl an Kirchenmitgliedern für die
Gemeinden immer belastender.
Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) hat sich in kongenialer Partnerschaft mit der
Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen die Aufgabe gestellt, die nicht geringe Anzahl an
leeren oder wenig genutzten Kirchen wieder mit Leben zu füllen. Hierbei wagt sie neue Wege, geht
große und kleine Schritte, passende Lösungen werden für jeden Ort gefunden, Scheitern ist erlaubt.
2016 riefen die EKM und die IBA Thüringen unter der kuratorischen Projektleitung des Büros für
Szenografie chezweitz, Berlin, sowie gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes auf, Ideen für
zukunftsfähige Nutzungen von rund 2000 Kirchen zu finden. Für 500 Kirchen kamen im Jubiläumsjahr
2017 sage und schreibe an die 500 Ideen zusammen.
Acht Modellprojekte sind aus diesem offenen Ideenaufruf hervorgegangen, die wir in diesem Buch
genauer vorstellen wollen: Die soziokulturelle Zentrumskirche St. Martin, Apolda, die
Her®bergskirche St. Michaelis in Neustadt am Rennsteig, die Gesundheitskirche Vivendium St.
Severi in Blankenhain, die Bienengartenkirche St. Peter und Paul in Roldisleben, ein meditativer
Spielplatz in der Kirche St. Nicolai in Niedergebra, die (digitale und soziale) Netzwerkkirche St.
Johannis in Ellrich, die noch leere Neue Kirche St. Peter und Paul in Donndorf sowie das Kunstprojekt
Organ mit Carsten Nicolai in der Kapelle St. Anna in Krobitz.
Es geht in all diesen Projekten natürlich immer um Kirchen als Häuser Gottes, aber eben auch um viel
mehr: Es geht um die Zukunft der dörflichen Gemeinschaften und die Schnittpunkte, darum, wie sich
in den alten Gebäuden die heutigen Probleme und Hoffnungen treffen. Es geht insbesondere um die
Menschen vor Ort, die diese Prozesse schultern: die Horsts und Ursels, die Gärtner und Imkerinnen, die zugereiste Bildhauerin aus Holland, der Schweizer Künstler, die Damen, die in der Fernsehshow
die Eigenmittel für den Wiederaufbau der Kirchtürme gewinnen – und viele, viele andere aktive
Menschen, die bereit sind, den Meter mehr zu machen, als es für ihr privates Sein nötig wäre.
Wir glauben, dass sich in der sukzessiven Realisierung so langsam ein neuer Typus Kirche offenbart.
Dieser neue Typus Kirche ist aufgeschlossen. Aufgeschlossen in zweierlei Hinsicht: Die Kirchen sind
nicht mehr zugesperrt und die Kirchengemeinden öffnen sich für Ideen, die ihre Kirchengebäude
wieder ins Zentrum der dörflichen Gemeinschaften zurückführen. Dabei sollen liturgische Aspekte
nicht aufgegeben werden, nein – der „liebe Gott“ darf ruhig über den Schlaf der Gäste in der
Herbergskirche wachen oder auch bei der gesundheitsfördernden Gymnastik in der Kirche anwesend
sein. Auch ist es kein Sakrileg, wenn in der Kirche gespielt oder geschaukelt wird, oder man sich über
das gemeinsame Gärtnern wieder als Dorf findet. Das eine schließt das andere nicht aus. Das andere
führt oft zum einen und es bleibt abzuwarten, was diese neuen Formen für den Glauben bewirken
und ob sie sogar zu seinem neuen Verständnis führen. Am Ende leben wir in einer Welt, der Tag hat
24 Stunden und ob es nun Gemeinnützigkeit oder Nächstenliebe heißt, ob man Nachhaltigkeit oder
Liebe zur Schöpfung sagt – all diese Einlassungen treffen einen gemeinsamen Nerv: den latenten
Wunsch nach Solidarität, Nachhaltigkeit und Metaphysik.
„Aufgeschlossen“ war auch das Motto des Kirchbautages im September 2019 in Erfurt,
dem wir die grundlegenden Reflexionen über Demografie und die Chancen des ländlichen Raumes,
zur Sozialraumorientierung und zum Selbstverständnis des Glaubens in der modernen Welt
verdanken. Wie man die Kirche im Dorf lassen kann, soll anhand von weiteren Essays in den Blick
genommen werden. Es wird vermutet, dass nach einem Niedergang des landwirtschaftlich geprägten
Dorfes nicht ausgeschlossen ist, dass genau in dieser Siedlungs- und Gemeinschaftsform ganz
eigenwillige Chancen schlummern. Über die Unverwechselbarkeit der klingenden Kirchtürme als
mögliche Horte eines modernen Heimatgefühls und über die immer wieder überraschenden
Reformbestrebungen aus der Nische des Ländlichen wird berichtet. Ist das eine besondere Eigenheit
dieser Geschichte? Nein, alles ist gar nicht so neu! Schon im Frühchristentum gab es die Hybriditäten
der Nutzungen beziehungsweise sind unsere heutigen Kirchen in dieser neuen Raumnutzung
entstanden. In 2000 Jahren Christentum ist auch langsam eine Form von „gebauter Metaphysik“
entstanden, die uns Heutige unvermittelt als Raumerfahrung ergreift. Im Neuen Typus Kirche, so
unsere Vermutung, zeigt sich überdies, wie sich in modernen Gesellschaften die Erfahrung
produktiver Verschiedenheit in wechselseitiger Abhängigkeit leben lässt, was gemeinhin heute
schlicht als eine Renaissance der Solidarität verstanden werden kann.
Und gerade weil die Kirchen in den letzten Jahrhunderten viele Funktionen verloren haben und zu
special institutions der säkularen Gesellschaft geworden sind, vermögen sie geradezu etwas zu
ermöglichen, dass nicht unerheblich geworden ist: Sie sind Orte der Ruhe, der Daseinsweitung, ein
Ort des Sozialen, der Hilfe, des Heilens, kurz: Nischen für Zukunft! In Thüringen, in Deutschland, aber
auch an vielen Orten in Europa geht die Arbeit an dieser Idee weiter, die Probleme sind nicht klein,
aber genauso wenig sind es die Möglichkeiten. Wir erhoffen uns von den Modellprojekten, dass sie
Vorbild für viele andere Gemeinden sind, das je Eigene im Dorf zu finden, es mit ihrer Kirche zu
verknüpfen und neue Energien für Gebäude, Gemeinschaft und Glauben zu gewinnen.
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